Geschichte der MS Ragnvald Jarl

 

MS RAGNVALD JARL 1956

Der bunte Lebenslauf eines traditionellen Postschiffes

 

Wie alles begann

Die seit 1893 bestehende Hurtigrute, der Schnelldienst mit kombinierten Post-, Passagier- und Frachtschiffen entlang der norwegischen Küste, wurde traditionell von verschiedenen Reedereien betrieben. Zunächst waren neben nordnorwegischen Gesellschaften auch Unternehmen aus den großen südnorwegischen Hafenstädten Bergen und Trondheim beteiligt. Seit 1936 wurde der Liniendienst täglich durchgeführt, was den Einsatz von 14 Schiffen erforderlich machte.

Im Laufe des Zweiten Weltkriegs ging der Großteil der Flotte verloren. Nach Kriegsende waren nur noch drei der vor dem Krieg eingesetzten Hurtigruten-Schiffe einsatzbereit. Der rasche wirtschaftliche Aufschwung erhöhte den Druck auf die Reedereien, kurzfristig neue Schiffe zu beschaffen. Die ersten vier Einheiten wurden bereits 1946 in Italien geordert, vier Jahre später bestellten die Reedereien drei weitere Einheiten in einem modernisierten Entwurf bei der dänischen Ålborg Værft.

Nach wie vor war der Einsatz der verbleibenden Vorkriegsschiffe sowie gecharterter Küstenschiffe erforderlich. 1954 orderten drei der beteiligten Reedereien (Bergenske Dampskipsselskap aus Bergen, Vesterålens Dampskipsselskap aus Stokmarknes und Nordenfjeldske Dampskipsselskap aus Trondheim) jeweils ein weiteres Schiff. Der Auftrag ging an die Werft Blohm & Voss in Hamburg, was in Norwegen angesichts der gerade erst gemachten Kriegserfahrungen politisch durchaus kritisiert wurde. Das erste Hamburger Schiff, die „Nordstjernen“ für die Bergen-Linie, entsprach in ihrer Gestaltung noch den vier Jahre zuvor aus Dänemark gelieferten Schiffen. Bei den beiden weiteren Schiffe haben sich die Auftraggeber für ein revolutionäres, modernes Design mit achterliegender Maschine und stromlinienförmigen Aufbauten entschieden. Nicht alle nahmen das ungewohnte Erscheinungsbild der beiden Neubauten mit Begeisterung auf…

 

Der Bau der Ragnvald Jarl

Die erste der beiden „modernen“ Einheiten lief im Februar 1956 als „Finnmarken“ für die Vesterålens Dampskipsselskap vom Stapel und wurde im Mai an ihre Reederei übergeben. Das zweite Schiff folgte nur wenige Monate später: das Nordenfjeldske-Schiff wurde am 19. April 1956 bei Blohm & Voss auf den Namen „Ragnvald Jarl“ getauft und lief anschließend vom Stapel. Die Ausrüstung konnte rasch abgeschlossen werden, und die Reederei übernahm ihr neues Flaggschiff am 24. Juli 1956. Nur vier Tage später verließ die nagelneue „Ragnvald Jarl“ Bergen und brach zu ihrer ersten Rundreise auf der Hurtigrute auf. Da die Reedereien Vesteraalske und Nordenfjeldske, was den Bau der beiden Schiffe „Finnmarken“ und „Ragnvald Jarl“ betraf, eng kooperierten, ist es nicht verwunderlich, daß sie von außen praktisch identisch waren. Nur die Inneneinrichtung und die Ausschmückung unterschieden sich von einander. Mittschiffs wurde der Salon für die 1. Klasse eingebaut, achtern der für die 2. Klasse. Insgesamt gab es Kabinen für 205 Passagiere.

 

Im Hurtigrutendienst

Im Hurtigruten-Linienverkehr bewährte sich das neue Schiff rasch und war zu einem zuverlässigen Verkehrsmittel für die Küstenbevölkerung geworden. Aus den ersten Jahren wurden nur wenige unangenehme Ereignissen bekannt. So ereignete sich am 12. September 1957 in den Innenräumen ein kleinerer Brand, der aber rasch gelöscht werden konnte.

Am 21. Oktober 1962 beteiligte sich die südgehende „Ragnvald Jarl“ an der Rettungsaktion für die „St. Svithun“, die spät abends auf der Folda auf Grund lief. Rørvik Radio informierte den Telegrafisten an Bord des Unglücksschiffs, daß das Schiff „Ursa“ in der Nähe war und sofort mit der Suche nach Überlebenden begonnen wurde. Auch die „Ragnvald Jarl“ sollte ausreichend Zeit haben, um zum Unglücksort zu gelangen, aber die „St. Svithun“ sank bereits eine Stunde nach der Grundberührung und war nicht mehr zu retten.

Nach elfjährigem Einsatz wurde im November 1967 eine Generalüberholung der Hauptmaschine notwendig. Dafür wurde die „Ragnvald Jarl“ wieder zu Blohm & Voss nach Hamburg geschickt. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde die Maschine auf Schweröl als Treibstoff umgerüstet. Die „Ragnvald Jarl“ hatte anschließend für viele Jahre den Ruf, das im Betrieb „sparsamste“ Schiff der Hurtigrutenflotte zu sein. Im weiteren Verlauf der Dienstzeit des Schiffes kam es zu kleineren Blessuren: am 20. Februar 1972 lief die „Ragnvald Jarl“ in der Risøyrenna auf Grund, und am 27. Oktober desselben Jahres kollidierte sie unglücklicherweise unter der Tromsø-Brücke mit MS „Uløytind“.

Die Jahre 1982/83 waren für die Entwicklung der Hurtigrute vor großer Bedeutung. Drei Neubauten stießen zur Flotte und machten die Außerdienststellung von einigen älteren Einheiten möglich. Andere Schiffe wurden modernisiert und im Standard an die Neuzugänge angepaßt. Dazu gehörte auch die „Ragnvald Jarl“, die im November 1983 von Mjellem & Karlsen in Bergen für rund 12-13 Millionen Kronen umfassend überholt und renoviert wurde.

Der Kabinenbereich wurde umgestaltet, viele Kabinen mit einer eigenen WC-/Duschzelle ausgerüstet. Gesellschaftsräume wurden zusammengelegt, die Cafeteria und der Rezeptionsbereich umgebaut. Außerdem erhielt das Schiff zwölf neue Kabinen, die durch die Zusammenlegung der beiden Salons für die 2. Klasse, entstanden. Dennoch sank die Kapazität der Betten von insgesamt 205 auf 144. Im Dezember war die „Ragnvald Jarl“ wieder in der Hurtigrute im Einsatz.

Im August 1989 wechselte das Schiff, zusammen mit der vier Jahre jüngeren „Harald Jarl“ ihre Eigentümer. Nachdem die Reederei Nordenfjeldske bereits 1984 von der Kosmos Group übernommen wurde, erfolgte der Verkauf ihrer beiden letzten Hurtigruten-Schiffe an die Troms Fylkes Dampskipsselskap. Das nordnorwegische Tromsø wurde zum neuen Heimathafen.

 

Ein neues Leben als Schulschiff

1993/94 erhielt die Hurtigrute drei neue Schiffe von der Stralsunder Volkswerft. Damit wurde eine weitere Stufe der Flottenmodernisierung in Gang gesetzt. Die „Ragnvald Jarl“, die mittlerweile eines der ältesten Schiffe auf der Hurtigrute geworden war, wurde aber dann doch überraschend im August 1995 von der TFDS an die Rogaland Sjøaspirantskole verkauft. Am 9. September 1995 beendete sie nach 39 Jahren mit der Ankunft in Bergen den Dienst als Hurtigrutenschiff. Der größte Teil seiner Besatzung wechselte sofort über zur „Nordstjernen“, die am selben Tag wieder als Hurtigrute aufbrach. Nachdem die Ladung der „Ragnvald Jarl“ gelöscht war, wurde sie den neuen Eignern übergeben und am 10. September nach Stavanger verholt, ihrem künftigen Heimathafen. In einem anschließenden Umbau wurde die „Ragnvald Jarl“ an die Bedürfnisse eines Ausbildungsbetriebs für Kadetten angepaßt und in "Gann" umbenannt. Auch optisch gab es eine große Veränderung: das Schiff erhielt ein neues Farbkleid mit weißem Rumpf und einer breiten roten Zierlinie. Der Schornstein, der in Beige lackiert wurde, erhielt zusätzlich das Logo der Seefahrtsschule, da das Schiff von nun an überwiegend als Schulschiff unterwegs sein sollte.

Als die Rogaland Sjøaspirantskole ab April 2007 das Hurtigrutenschiff „Narvik“ als neues Schulschiff „Gann“ einsetzte, wurde die ehemalige „Ragnvald Jarl“ an die Sørlandets Seilende Skoleskibs Institution in Kristiansand verkauft und in „Sjøkurs“ umgetauft. Nach der „Salten“ und der „Sandnes“ war die frühere „Ragnvald Jarl“ nun bereits das dritte Schiff, das diesen Namen trug. Für das Betriebs- und Lehrprogramm der Kadetten war übrigens die Sørlandets Maritime Videregående Skole zuständig.

Vom 22. Juni bis zum 10. August 2013 charterte der norwegische Staatsrundfunk NRK die „Sjøkurs“ für eine ausgedehnte Sommertour mit 38 Anlaufstationen. Mit großem Erfolg wurde täglich von Bord live im Fernsehen über die Reise entlang der norwegischen Küste berichtet. Die 45-minütige Sendung „Sommeråpent“ wurde sogar an Bord produziert und führte bis in den hohen Norden Norwegens. Die „Sjøkurs“ war auf dieser Reise ein gern gesehener Gast bei allen Hafenfesten im Land, die Passagen zwischen den Orten wurden live übertragen, die Lokalbevölkerung kam für Interviews an Bord und sprach über ihr Leben in den kleinen Orten an der Küste. Während dieser Reise erleidet das Schiff in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli zwischen Brønnøysund und der Insel Træna eine Grundberührung, die jedoch ohne Folgen bleibt.

2015 wird das Schiff erneut vom NRK für eine große Sommertour gechartert, und an Bord wird die Krimiserie „Mysteriet på Sommerbåten“ produziert. Beginn der Krimi-Reise war Vadsø, wo auf geheimnisvolle Weise der Koch verschwand. Ein Polizist kommt an Bord, der den Fall auf der 41-tägigen Reise nach Oslo aufklären soll. Es stellt sich heraus, daß die Mannschaft viele Geheimnisse hat, die es zu lüften gilt und die täglich auf NRK gesendet werden. Die „Sjøkurs“ legt auf dieser Reise eine Strecke von 1.446 Seemeilen zurück und gilt nun als Drehort für die „längste Krimiserie der Welt“.

 

Vestland Classic

Im Januar 2019 gibt Sørlandets Seilende Skoleskibs Institution bekannt, daß das Schiff aufgrund seines mittlerweile schlechten Zustands nicht weiter betrieben werden kann und ein Umbau nach Maßgabe der aktuell gültigen Vorschriften und Bestimmungen zu teuer würde. Die „Sjøkurs“ wurde daher in Kristiansand aufgelegt und erneut zum Verkauf angeboten.

Am 5. März 2020 kaufte Vestland Classic die „Sjøkurs“ mit dem Ziel, das Schiff als historisches Fahrgastschiff für Küstenkreuzfahrten zu betreiben. Dafür erhält es nach 25 Jahren seinen ursprünglichen Namen „Ragnvald Jarl“ zurück und wurde am 6. März 2020 für einen umfassenden Umbau von Kristiansand nach Danzig geschleppt. Die Arbeiten in der Danziger Werft werden einige Zeit in Anspruch nehmen, da das Schiff in einem sehr schlechten Zustand übernommen wurde. Mit einem Einsatz ist daher nicht vor 2025 zu rechnen.